Thula und Iris

Buchumschlag Arabella Carter-Johnson: Iris Grace

Arabella Carter-Johnson: Iris Grace

Manchmal fallen sie früher auf, und manchmal erst später: Schwierigkeiten und Verzögerungen beim Spracherwerb, Probleme beim Erlernen alltäglicher Verrichtungen wie dem Anziehen oder dem Baden, aggressives oder zurückgezogenes Verhalten, alles kann und wird in vielen Fällen zu einer nicht lösbaren Herausforderung. Für die Familien ist es nicht leicht, wenn sich nach der Geburt eines Kindes herausstellt, dass mit dem geliebten kleinen Wesen etwas nicht stimmt und niemand in der familiären Umgebung und auch nicht die Ärzte Rat wissen: Kinder mit Autismus leben in ihrer eigenen Welt.

Vielleicht hilft es uns, sich Autismus vorzustellen, wenn wir wissen, dass der Verstand eines autistischen Kindes im Ruhezustand um etwa vierzig Prozent mehr Informationen liefert als der eines durchschnittlichen Erwachsenen. Ein Abschalten ist nicht möglich. Die persönlichen und sozialen Folgen sind unübersehbar.

An Autismus leidende Kinder leben im Hier und Jetzt und erkennen nicht die größeren Zusammenhänge ihrer Umwelt. Planung und ein nach ihren Vorstellungen geordnetes Leben sind ihnen alles, jede Abweichung irritiert sie und provoziert Katastrophen. Sie können weder ihre Umwelt noch die Mimik, Gestik und Redeweise anderer Menschen richtig einschätzen.

Auch für Arabella Carter-Johnson und ihren Mann war es sehr schwierig, einzusehen, dass ihre Tochter Iris an Autismus erkrankt ist. Zuerst versuchten sie mit allen ihnen selbst zur Verfügung stehenden Mitteln, ihrer Tochter zu helfen. Hunde, die so oft in der Therapie von Kindern erfolgreich eingesetzt wurden, konnten allerdings nicht eingesetzt werden, die Wartelisten für einen Therapiehund sind auch in England viel zu lang. Pferde waren ihrer Tochter nicht schnell genug „reisefertig“, das Satteln dauerte ihr zu lang. Dank der großartigen Unterstützung einer Tante konnten sie selbst TherapeutInnen und SprachtrainerInnen organisieren. Aber nicht alle TherapeutInnen konnten oder wollten sich und ihre pädagogischen Bemühungen auf die kleine Iris einstellen. Hinzu kommt, dass es bestimmte Geräusche und Gerüche gibt, die Kinder mit Autismus sozusagen „aus der Haut fahren“ lässt. Bittet ein Elternteil dann im Kindergarten darum, das Spielzeug, mit dem andere Kinder diese Geräusche produzieren, zu entfernen, gilt die Familie ziemlich schnell als asozial, weil sie ja die Entwicklung eines anderen Kindes stört.

Selbst eine Familie, die sich ein Haus im ländlichen England leisten kann, stößt bald an ihre finanziellen Grenzen. Die persönlichen Grenzen werden allzu oft schon davor durch dauernden Schlafmangel und ständiges Konfliktmanagement erreicht.

Was könnte nur eine Änderung zum Positiven herbeiführen? Manchmal sind es die kleinen Dinge. Durch Zufall beginnt Iris zu malen. Anfänglich ist auch das nicht einfach, weil der Malbecher zu leicht ist und umfällt, das Papier sich beim Bemalen wellt, die Farben kleckern, weil sie zu flüssig sind. Aber mit der Zeit stellen sich kleine und später auch größere Erfolge ein. Das kann ein kleines „Bye-bye“ zum Fahrrad sein, wenn es nach einem Ausflug im Schuppen verstaut wird, oder ein gelungenes Weihnachtsfest, das nicht wie alle vorherigen in einem Drama endet.

Und dann kommt Thula, und alles wird noch viel besser. Thula ist eine kleine Katze, weshalb ich das Buch „Iris Grace. Bilder malen tausend Worte. Die Geschichte meiner autistischen Tochter“ von Arabella Carter-Johnson in unserem Katzenblog bespreche. Mit Thula verändert sich Iris, und die Welt verändert sich mit ihr.

Es ist wunderschön und herzerwärmend zu lesen, wie Iris – und ihre ganze Familie – durch Thulas Gegenwart aufblüht. Allerdings ist das leider ein Einzelfall, denn allzu oft bekommen Eltern mit kranken Kindern nicht die Unterstützung, die ihnen zusteht. Oder es wird ihnen die Unterstützung sogar weggenommen, wie der Mutter eines schwerkranken Mädchens, für das es in Niederösterreich keine geeignete Pflegeeinrichtung gibt. Sie pflegt ihre Tochter deshalb zu Hause und kann nicht arbeiten gehen. Und dann wird ihr das Pflegegeld für ihre Tochter von ihrer eignen Sozialhilfe abgezogen, weil sie ja in einem gemeinsamen Haushalt leben.

Die Geschichte von Iris und der kleinen Thula lässt uns aber so manche Ungerechtigkeit vergessen. Schließlich geht es grundsätzlich darum, Kindern zu helfen und sie zu unterstützen. Nicht nur unsere eigenen, sondern auch Kinder auf der ganzen Welt.

Und das besonders Schöne an der Geschichte ist, was für eine lustige, glückliche Katze Thula ist. Denn die Hilfe für Menschen darf nicht mit dem Unglück anderer Lebewesen erkauft werden. Das gilt es stets im Auge zu behalten, auch bei tiergestützten Therapien oder Ausflügen auf einen Ponyhof, so bereichernd und wichtig sie für Kinder und Menschen auch sind.

Als langjährige Gastgeberinnen und Gastgeber von Katzen überrascht es uns nicht wirklich, dass sie eine – in diesem Fall ganz besonders – erfreuliche Wirkung auf Menschen ausüben. Und so dringend, wie viele Katzen ein Zuhause und eine Familie brauchen, so glücklich machen sie uns dann auch.

Zu: Arabella Carter-Johnson, Iris Grace. Bilder malen tausend Worte. Die Geschichte meiner autistischen Tochter, Bastei Lübbe (Köln) 2016

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